Deyaa – Eine Mutter auf der Flucht

Ich heiße Deyaa, bin 39 Jahre alt, verheiratet und habe drei Kinder. Mein jüngstes Kind ist hier in Deutschland geboren. Ich komme aus Idlib, Syrien. In Idlib, meiner Heimatstadt, ist es schon seit geraumer Zeit sehr gefährlich. Manchmal – nein, jederzeit besteht die Gefahr, dass Bomben auf die Stadt geworfen werden. Es gibt keinen bestimmten Zeitpunkt dafür. Es kann jederzeit passieren. Vielleicht morgens, vielleicht abends … Plötzlich tauchen Flugzeuge am Himmel auf und werfen Bomben auf die Stadt. Ich habe Idlib sehr geliebt und hätte nie gedacht, dass ich diese Stadt verlassen würde, um in einem anderen Land zu leben. Aber als der Krieg begann und die Stadt zerstört wurde, hatte ich große Angst um meine Kinder. Ich wollte meine geliebte Stadt nicht verlassen, aber der Sicherheit meiner Kinder zuliebe fasste ich den Entschluss, zu fliehen.
Meine Kinder sind noch sehr klein, sie sind sechs und sieben Jahre alt. Vor allem meine ältere Tochter Nour hatte große Angst. Die schrecklichen Erinnerungen verfolgen sie immer noch. In der Silvesternacht kam sie weinend zu mir und sagte: „Mama, ich habe solche Angst, die Böller erinnern mich an die Bomben, die auf unser Haus geworfen wurden.“

Es kamen viele böse Menschen nach Idlib, unter anderem Soldaten Al-Assads. Sie bekämpften sich gegenseitig und töteten viele Menschen. Wenn ich zum Müllcontainer ging und ihn öffnete, lagen oft Leichen oder Leichenteile darin. Ja wirklich! Auf den Straßen und auch in Einkaufsläden gab es immer wieder Tote. Wenn du spazieren gegangen oder Auto gefahren bist – überall wurden Menschen getötet, erschossen. Sie wurden erschossen und manchmal einfach in die Straßengräben geworfen. Es war eine unvorstellbar schreckliche Zeit. Der einzige Ausweg aus diesem ganzen Grauen war, meine geliebte Stadt zu verlassen. Also brachen wir auf, mein Mann, meine beiden Töchter und ich, um Schutz in einem Dorf, etwas abgelegen von Idlib, zu suchen. Meine ganze Familie hatte sich in ein kleines Haus zurückgezogen, wir waren zweiundzwanzig Leute. Meine Mutter, mein Vater und  meine Geschwister mit ihren Ehepartnern und Kindern. Mit zweiundzwanzig Leuten teilten wir uns zwei Zimmer. Es war klar, dass wir dort nicht bleiben konnten. Wir mussten weiter. Also brachen wir erneut auf; unser nächstes Ziel war die Türkei.

Schlepper, auch „Menschenfresser“ genannt, ermöglichten uns unseren nächsten Schritt: Wir hatten drei Tage bis in die Türkei gebraucht, nun sollte es weiter nach Griechenland gehen. Über das Mittelmeer. Warum sie „Menschenfresser“ genannt werden fragst du?  Weil sie dir dein ganzes Geld wegnehmen, um dich dann auf hoher See sterben zu lassen. Das Boot, mit dem wir nach Griechenland fahren wollten, war für fünfzehn Passagiere zugelassen. Aber wie viele Menschen wollten die „Menschenfresser“, glaubst du, tatsächlich transportieren? Es waren vierzig. Und wenn du auch nur im geringsten Zweifel an dem Unterfangen gezeigt hast, drückten sie dir ein Messer an den Hals oder eine Pistole an den Kopf und sagten: „Oh, du willst nicht mit? Gut, steig aus und geh nach Hause!“ Mein Mann war außer sich, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und fragte verzweifelt: „Oh, was soll ich nur machen?!“ Ich erklärte ihm: „Wenn wir in Syrien bleiben, werden wir sterben. Wenn wir fliehen, können wir ebenfalls sterben. Also werden wir fliehen!“ Somit war die Sache klar.
Drei Stunden später legten wir sicher in Griechenland an. Gott sei Dank war die Bootsfahrt gut verlaufen. Wir blieben für elf Tage in Griechenland, allerdings war die Reaktion der Einheimischen alles andere als herzlich. „Woher kommt ihr und was wollt ihr hier? Wir wollen euch hier nicht, reist weiter!“
Wir flohen weiter, zu Fuß durchquerten wir Mazedonien. Ich war sehr erschöpft und meine jüngere Tochter Remas weinte unaufhörlich. In meiner Verzweiflung schrie ich sie an: „Stop, Remas, hör auf, du machst mich noch verrückt!“ Nour, die ältere, hörte meistens auf zu weinen, wenn ich ihr etwas zu essen gab.

Wir sind durch Mazedonien gelaufen und weiter durch Serbien. Manchmal haben uns Schlepper mit dem Auto mitgenommen. Das war ein sehr kostspieliges Vergnügen. Manchmal haben sie einen nicht wie abgemacht bis zur nächsten Ländergrenze gebracht, sondern nach zehn Kilometern angehalten und wir mussten zu Fuß weiter. Wir glaubten uns dem Ende unserer Flucht zu näheren, als der Schlepper, der uns mit dem Auto mitnahm, sich verfuhr und wir nicht in Deutschland, sondern in Tschechien landeten. Wir setzen unseren Weg zu Fuß fort. Überall waren Wachposten; wir mussten uns versteckt halten und so leise und schnell wie möglich an einen sichereren Ort kommen. Da schrie Remas plötzlich auf. Ich zischte noch: „Remas, sei still!“, da waren wir bereits entdeckt worden und wurden festgenommen. Man ließ uns über einen Dolmetscher wissen, dass wir zwei Möglichkeiten hatten: Entweder müssten wir in Tschechien bleiben oder zurück in die Türkei. Ich sagte, dass ich nirgendwo hingehen würde. Ich würde bleiben und vielleicht einen Weg nach Deutschland finden.

Fünfzehn Tage saßen wir in Tschechien im Gefängnis. Es war eine sehr anstrengende Zeit, ich war unglaublich erschöpft. Es war verboten, raus zu gehen, es gab vorgeschriebene Essens- und Schlafenszeiten. Nach 20 Uhr durfte nicht mehr gesprochen werden. Diese Zeit war unglaublich kräftezehrend.
Dann hatten wir ganz unverhofft die Möglichkeit, aus dem Gefängnis zu fliehen. Ich war so glücklich in diesem Moment. Zusammen mit zwanzig anderen Leuten sind wir in einen Van gestiegen und haben uns auf den Weg nach Deutschland gemacht. Wir sind sehr schnell gefahren, um unbemerkt unser Ziel zu erreichen. Diese Fahrt hat mich sehr viel Geld gekostet, aber schlussendlich sind wir in Deutschland angekommen.

Ich hatte die ganze Flucht über unglaubliche Angst um meine Kinder. Unterwegs gab es keine Möglichkeit, im Notfall einen Arzt oder ein Krankenhaus aufzusuchen. Als wir Ungarn durchquerten, liefen wir durch einen Wald. Es gab viele Insekten und Mücken, deren Bisse zu großen Beulen anschwollen. Meine Kinder wurden gebissen und zerstochen, genauso wie ich, obwohl ich zwei Kleiderschichten trug.
Meine Angst wuchs noch mehr, als wir einen Fluss überqueren mussten. Die Strömung hätte eines meiner Kinder mitreißen oder unter Wasser ziehen können. Wenn ich mich an die Flucht erinnere, die Strecken, die wir gelaufen sind, diese riesigen Distanzen, kann ich es kaum fassen. Es war eine schreckliche Zeit.
Wenn ich jemandem einen Rat geben müsste, wäre es dieser: Komm alleine, ohne deine Kinder. Es bestehen zu viele Gefahren für Kinder: Sie können krank werden oder sich verletzen und du hast keine Möglichkeit, medizinische Hilfe zu bekommen. Wenn du ein überwachtes Gebiet durchqueren musst, stellen sie ein großes Risiko da. Du musst leise sein, dich verstecken und schnell laufen können.

Das war meine Flucht.

3 Gedanken zu „Deyaa – Eine Mutter auf der Flucht

  1. Es ist unglaublich und für uns nicht mal im Ansatz zu erfassen, was die Menschen erleben mussten. 😢😢😢😢
    Danke, dass Du uns diesen Bericht zeigst. 💜

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